Vom 17. bis 20. September 2025 stellten wir erstmals auf der REHACARE aus. Im Beitrag möchte ich von Barriefreiheit in der Praxis sowie meinen Eindrücken und Erfahrungen mit Menschen mit Behinderungen auf einer der führenden Messen für Barrierefreiheit und Inklusion berichten.
Zum ersten Mal waren wir als Aussteller auf einer Messe. Unser Auto war voll bis unters Dach – Messestand, Klamotten, Essen. Mit Ausnahme einiger Kabelbinder hatten wir kein Werkzeug dabei.
Wir kommen unkompliziert aufs Messegelände und finden unsere Standfläche in Halle 5 B26. Der Nachbarstand ist trotz später Stunde noch leer.
Was uns direkt auffällt: Alle anderen Aussteller haben Teppich – wir nicht. Im Messe-Center bekommen wir eine Telefonnummer und rufen an. Auf dem Rückweg zu unserem Stand sehen wir zwei Bullis, vollgeladen mit Teppichrollen. Wir sprechen die Männer an – und stellen dabei fest, dass wir gerade mit einem von ihnen telefoniert haben. Er lacht, drückt uns den Rest einer Teppichrolle in die Hand – Klebeband inklusive und kostenlos. Wir bekommen die doppelte Menge, mehr als wir benötigen.
Kaum sind wir fertig mit der Teppichverlegung, bittet uns ein anderer Aussteller um Hilfe. Sie haben den Teppich vergessen. Wir geben ihm kurzerhand unsere Reste – Klebeband inklusive.
Abends noch was essen, dann runterfahren. Der Messemarathon kann kommen.
Der Stand neben uns bleibt leer.
In unserer Nachbarschaft stehen Aussteller aus Taiwan und Belgien. Englisch ist kein Problem, und so kommen schnell erste Gespräche zustande.
Halle 5 ist bunt gemischt. Von Entspannungstechnologien über Anbaugadgets an Rollstühle bis zu Vereinen, Rollstuhlherstellern, barrierefreien Hotels und Exoskeletten ist alles vertreten. Und wir mittendrin.
Wir sprechen die Menschen aktiv an, reden über inklusive Spielplätze und laden zu unserem Event im Nordpark ein.
Ein Highlight unserer REHACARE 2025 Erfahrungen ist die Begegnung mit einer jungen Leistungsschwimmerin im Rollstuhl. Ihre Geschichte hat mich berührt. Ihre Mutter erzählt, dass sie – genau wie ihr Bruder – hochbegabt ist. Ihre ältere Schwester ist Asperger-Autistin und hatte zusätzlich einen Gehirntumor. Die Mutter spricht offen darüber, wie schwer es manchmal war, allen Kindern gerecht zu werden.
Als Leistungsschwimmerin ist die Tochter – trotz Beeinträchtigung – schneller als viele Jungs in ihrer Klasse. Sie wollte Sportjournalismus studieren und hat sich dafür eineinhalb Jahre im Voraus an der Hochschule angemeldet. Eine Woche vor Ablauf der Frist ruft sie dort an, um sich nach dem Stand zu erkundigen – und bekommt eine knappe, fast abweisende Antwort: Sie solle einfach abwarten, bis die Frist vorbei ist. Für jemanden, der Planungssicherheit braucht, ist das kaum zu ertragen. Vielleicht hat sie deshalb den Rückzug selbst gewählt – vielleicht auch aus Selbstschutz.
Jetzt hofft sie auf eine Zusage ihrer Bewerbung bei der Verwaltung in ihrer Stadt, um dort im Standesamt anfangen zu können. Denn, wie sie sagt:
„In der Verwaltung würde ich nur untergehen.”
Ich hoffe, sie liest diesen Beitrag. Ich würde gern einen Kontakt herstellen, damit sie vielleicht doch noch ihren Weg findet – in Richtung Studium, oder dorthin, wo sie wirklich hin möchte.
Wir wechseln auf den leeren Nachbarstand. Die neue Lage ist deutlich besser: mehr Laufkundschaft, mehr Sichtbarkeit. Auch ohne Teppich. Teppich ist nicht das, was uns ausmacht.
Im Vorfeld der Messe haben wir eine Spielplatzbegehung im Nordpark organisiert. Wir haben gezeigt, wie Inklusion im öffentlichen Raum erreicht werden könnte.
Wir haben die Verantwortlichen der angrenzenden Städte und Kommunen persönlich eingeladen und gehofft, dass auch das Grünflächenamt Düsseldorf oder die Presse vorbeikommen. Die kamen nicht, da das Grünflächenamt mit dem Format nicht einverstanden war.
Dafür war die Resonanz bei den teilnehmenden Verwaltungen umso positiver. Eine Teilnehmerin fasste den Austausch treffend zusammen:
„Der Wille ist Voraussetzung, um etwas verändern zu wollen.”
Mit dabei waren auch Michael und Tim von Freizeitpark Erlebnis. Beide setzen sich für die Barrierefreiheit in Freizeitparks ein und dokumentieren ihre Erfahrungen in Videos. Tim erklärt, dass er nur kurze Strecken und mit großer Anstrengung laufen kann. Er zeigt, dass er zwar auf dem Rasen rollen kann, das aber viel Kraft erfordert und alles andere als komfortabel ist.
Am Abend treffen wir Lisa und David Lebusa von Sit’nSkate. David war früher Skater, nach seinem Unfall wurde er Rollstuhlskater – heute Profi. Beim Essen erzählt er, dass gerade Kinder im Gesundheitssystem zu kurz kommen, weil die schwereren Kassenrollstühle sie in der Entwicklung ihrer Motorik nicht nur behindern, sondern gar zurückwerfen. Ein absurdes, aber reales Systemproblem.
Lisa und David sind ihre Skepsis anzumerken. Sie erzählen von ihren Workshops an Schulen, bei denen Kinder im Rollstuhl Skaten lernen. Und von einem Mädchen in Hamburg, das während der Pause allein im Klassenzimmer eingeschlossen wird, wenn der Inklusionshelfer fehlt.
„Weil sich sonst niemand zuständig fühlt.“
Beim Abschied sagen Lisa und David schließlich:
„Ihr seid für zwei Nichtbehinderte doch ganz cool.“
Beim zweiten Event im Nordpark sind Lisa und David von Sit’nSkate mit dabei.
Um Hundekot an den Reifen zu vermeiden, bleiben wir mit der Gruppe auf dem Weg und nehmen nicht die Abkürzung über den Rasen. David ist querschnittsgelähmt. Er zeigt, wie er die schmale Rampe eines Spielgeräts hochfahren und sich oben auf einem Reifen sogar drehen kann. Profirollstuhlskater halt. Der Sinn der Rampe erschließt sich uns nicht – in der Breite zu schmal und zum Wenden nicht gemacht.
Zurück am Messestand lernen wir Sascha kennen. Er sitzt im Rollstuhl und kann nicht sprechen. Sascha kommuniziert über ein Talker-Gerät, tippt über eine Tastatur. Seine Antworten erscheinen auf einem Smartphone. Das Gespräch entwickelt sich zu einem der intensivsten der ganzen Messe. Sascha lebt allein, hat früher in einer Einrichtung gearbeitet, dort Pilze sortiert, bis er beschlossen hat, nicht mehr dorthin zu gehen. Seine Kindheit war nicht leicht. Er erzählt, dass er oft unterschätzt wurde – auch von seinen Eltern musste er sich Sätze anhören wie:
„Hör auf zu sabbern und fang endlich an, deutlich zu sprechen.“
Sascha hat sich das Programmieren selbst beigebracht. Heute arbeitet er täglich – oft bis zu zehn Stunden – an einer Talker-Webapp. Er möchte sie Kindern kostenlos zur Verfügung stellen, die wie er Schwierigkeiten mit der Sprache haben. Ich bin tief beeindruckt und gleichzeitig beschämt über meine Schubladen im Kopf.
Am Abend findet die Messefeier statt. Buffet, Musik, DJ, tanzende Menschen im Rollstuhl. Energie, Lebensfreude, Leichtigkeit. Ein starkes Bild zum Abschluss eines intensiven Tages.
Um 17 Uhr beginnt der Abbau. Ich hole das Auto, fahre durch das Labyrinth der Wartezonen. Julia hat den Stand vollständig abgebaut. Wir sind müde, hungrig und holen uns für die Rückreise indisches Essen.
Zuhause sind unsere Kinder noch wach. Meine Eltern, die die Woche über aufgepasst haben, sind bereits zurück nach Hause gefahren. Wir sind sehr zufrieden mit unserem ersten Messeauftritt.
Ich habe den Zertifikatskurs „Barrierefreie Verkehrs- und Freiraumgestaltung“ in Weimar absolviert. Aber keine Norm, kein Studium und kein Lehrbuch ersetzt das, was man auf der REHACARE erlebt. Hier sieht man, was Barrieren wirklich bedeuten – und dass man sie erst versteht, wenn man mit den Menschen spricht.
Barrierefreiheit ist mehr als eine Frage von Normen. Sie zeigt sich in Nutzbarkeit und Erreichbarkeit – aber auch in Geduld, Empathie und Rücksichtnahme. Barrierefreiheit endet nicht an der Tür. Sie beginnt im Kopf.
Sascha, Lisa, David, die Schwimmerin, die Mutter mit ihrer Tochter, Michael und Tim – sie alle haben mich nachhaltig beeindruckt. Jede Begegnung hat mir gezeigt, dass Inklusion nur funktioniert, wenn wir bereit sind, zuzuhören und miteinander zu reden. Nicht über Menschen – sondern mit ihnen.
Ich wünsche mir, als Sozialunternehmer, der Gutes leisten will, gesehen zu werden – und davon leben darf. Nicht als Idealist.
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